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Eugenie Kain: FLÜSTERLIEDER
[...] Seine Familie sahen sie nur an Feiertagen. Die jüngeren Schwestern hatten nicht vergessen, dass er Mutproben verlangt hatte von ihnen. Sie waren durch das Brennnesselfeld am Bach gelaufen und hatten sich im Finstern auf den Urnenfriedhof geschlichen, um nicht als feige zu gelten. Daran erinnerten sie sich und auch ihn, wenn sie zusammenkamen. Viel durcheinander geredet wurde dann, es ging nicht anders, vier Schwestern, zwei Brüder, mit Frauen und Männern und Kindern, eine laute, fröhliche Runde, die sich noch immer in der Wohnküche bei der Mutter traf, in der sie alle nur dann Platz hatten, wenn sie auch die Armlehnen des Fauteuils als Sitzplatz nützten und die Stehplätze hinter der Anrichte, die den Wohnbereich von Ofen und Abwasch trennte. Meist blieb das Gespräch in der Gegenwart und an der Oberfläche, weil hier kaum Reibung entstehen konnte - sie hatten unterschiedliche Ansprüche an das Leben und deshalb auch konträre Vorstellungen von der Zukunft - aber wenn sich das Gespräch in die Vergangenheit zurücktastete ging es schnell.
Weißt du noch, die Brennnesseln. Wisst ihr, der Friedhof. Der neue Boden, sagte die Mutter. Ihr habt mir den neuen Bodenbelag ruiniert. Mit der Erinnerung schlich sich ein bitterer Ton in ihre Stimme, der sich von ihrem Lachen und auch vom Lachen der anderen nicht verscheuchen ließ. Es war seine erste Band. Sie probten in der Wohnküche. Die Bassdrum braucht einen guten Halt. Daran hatte der Schlagzeuger gedacht und nicht an den Küchenboden, als er die Dornenfüße der Trommel fixierte. Ein paar Tage vorher war der Boden neu verlegt worden. Linoleum. Beige gemustert. Der war jetzt aufgerissen und hatte Kerben und es gab Nichts, mit dem man den Schaden hätte beheben können. Es gab kein Geld für einen neuen Bodenbelag. Die Eltern hatten es nicht, auch nicht die Mutter des Schlagzeugers und die Buben schon gar nicht. Den Ärger milderte vielleicht die Zuversicht, dass der Lärm der röhrenden Gitarren und harten Trommelschläge die Buben einmal aus der Siedlung hinaustragen würde. Das Vertrauen schien berechtigt, denn bald ergaben sich die ersten Engagements, sie spielten bei Hochzeiten und beim Fünfuhrtee und sie kamen bis in die ersten Hotels am Arlberg. Dem Schriftzug auf der Basstrommel nach zu schließen hieß die Band Die Rogers. Vier junge Herren in schwarzen Hosen, dazu Selbstbinder, weißes Hemd und Gilet, zwei Gitarren, ein Bass und ein silbernes Schlagzeug. Er schien verkabelt mit einer roten Fender-Stratocaster. Das Bild hatte ihn eingefroren in Grätsche und mit offenem Mund.[...]
Erschienen 2006 im OTTO MÜLLER VERLAG
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