Ausstellung / Archiv 2009
Hammerweg
 
FLÜSTERLIEDER / Eugenie Kain
MAGIC HAMMERWEG Text: Alenka Maly

„Mich hat in den 60er Jahren der Hammerweg immer magisch angezogen, ich komme aus Traunleiten, das ist nicht weit von dort, zwischen uns lag eigentlich nur die Kremstal-Bundesstraße und die Schottergrube“, erzählt Karl, der seine Haare schon lang trug, als die Frisur der Beatles noch eine unerträgliche Zumutung war. In seiner Gegend waren Einfamilienhäuser angesiedelt, die Zäune verbargen Haltungen und Geschichten, über die nach dem Krieg niemand geredet hat. Die Hammerwegsiedlung war deshalb ein Magnet für ihn, weil er den Eindruck hatte, dass die wilden Jugendlichen von dort Avantgarde waren. Einer schrieb, einer malte, einer war Musiker und generell schienen ihm die meisten jungen Leute im Vergleich zu seinem Umfeld unangepasst, was seinem Temperament sehr entgegen kam.

Wir sitzen in einem Kaffeehaus in Linz, in der Nähe des Platzes wo einmal die Oper stehen wird. Mit uns am Tisch seine hübsche junge Tochter, die mit jedem Schluck aus ihrem Glas Marillensaft ein wenig mehr an den Erzählungen ihres Vaters interessiert scheint. Karl trinkt Kaffee, ich habe daheim schon drei getrunken und gefalle mir darin ein Tonic zu bestellen. Die Häuser dort waren, im Gegensatz zu denen in meiner Strasse, immer offen, sagt Karl und mich überfällt gleich eine Art von Stolz auf meine Herkunft. „Wir Kinder sind dort einfach aus- und eingegangen, nie hat mich jemand nach meinem Namen gefragt, wo ich herkomme, oder was ich hier tue. Ich war halt so da. Nur wenn am Abend das Essen fertig war, musste ich gehen.“

Die Erfahrung habe ich selbst auch gemacht, erzähle ich ihm, aber ich wusste nicht, wie es wo anders war, ich bin dort aufgewachsen. In jedem Haus in der Siedlung haben vier Familien, auf jeweils um die 50 Quadratmeter gewohnt. Die kinderreichste Familie lebte zu elft auf Zimmer, Küche, Kabinett. „Das Avantgardistische und coole, wie man heute sagen würde, war eine Attraktion“, erzählt Karl, „aber besonders aufregend für uns Heranwachsende waren die Gemeinschaftsbäder in den Kellern, in denen immer die hübschen Mädchen verschwanden und duftend wieder herauskamen.“ Mein Beschluss, ihn mit auf die Liste der Interview- Partner für das Video zur Ausstellung zu nehmen, steht fest. Weil ich dort eine Generation später auch die duftenden Menschen herauskommen gesehen habe, weiß ich, dass die Schlüssellöcher der Kellerbadtüren für die Buben immer besonders spannend waren. Karls Tochter bestellt noch einen Saft. Zuhause wurde Karl wegen der langen Haare vom Stiefvater geschlagen, in der Schule unter Druck gesetzt. Am Hammerweg waren die Haare irgendwie egal. Wir überlegen ob man das einer gewissen Toleranz oder einer allgemeinen Ignoranz zuschreiben sollte und einigen uns darauf, dass die Leute dort ganz andere Probleme hatten, als die Haartracht eines unbekannten Jugendlichen, der da zwischen dutzenden anderen Siedlungskindern in ihrem Wohnzimmer saß.

Die Zeit war eigenartig, 1965 weinten am Stammtisch die selben Trauner, die Adolf Hitler hinterher trauerten, um Winston Churchhill. In der Siedlung hat er von Politik nie jemanden reden hören. Über Geburtswehen und Frauenkrankheiten hat er viel erfahren, über den kurz davor zu Ende gegangen Krieg der Faschisten gar nichts. Mir fällt wieder die tiefe Bestürzung meines Vaters ein, nachdem meine Mutter, die in einer politisch bewussteren Familie aufgewachsen ist, ihm und mir das Konzentrationslager Mauthausen gezeigt hat. Unbedingt muss man bei unserer Ausstellung auch den „Bam im November“ anhören können, beschließe ich und freue mich, in Karl einen aufmerksamen Beobachter der Hammerwegsiedlung vor meiner Zeit getroffen zu haben. Der „Bam im November“ ist eines der bekanntesten Lieder meines Vaters Gust Maly aus den 1980er Jahren. Es erzählt von einem alten Baum der schon 1938 im Areal des Lagers Mauthausen gestanden ist und alle Verbrechen im KZ miterlebt hat. Seit Mauthausen war alles anders.


Bevor wir in Mauthausen waren schien es mir so, als gäbe es außerhalb der alltäglichen Geld- und Beziehungsprobleme in der Hammerwegsiedlungswelt nur Kreisky, Fußball und Herrn Kaiser. „Das sag ich dem Kaiser“, hieß es wenn jemand sich über den Nachbarn geärgert hat, oder wenn die Kinder einer Familie zu einer anderen frech waren, wenn jemand den „Haus und Flurdienst“ schlecht erledigt hatte, oder ein Kellerfenster kaputt war. Der Kaiser war eine Person zum Fürchten, er war der strenge Verwalter der Siedlung. Kreisky war König und Fußball auch.
Nach dieser Fahrt hat sich der Vater verändert, meine Mutter hat mit Mauthausen eine neue Dimension in unsere Familie gebracht, politische Diskussionen, neue Freunde, eine Wut auf die schweigende Elterngeneration. Und eine Wut auf die herrschenden Verhältnisse, die ihn schließlich aus der Familie, aus der Siedlung, aus der Stadt ausbrechen ließen.

Karls Tochter Julia und ich finden im BRG Traun einen Gesprächsstoff, wir unterhalten uns über gemeinsame Lehrer. Ich frage nur nach denjenigen, die damals gerade frisch vom Studium kamen. Als sie die als die Uralten beschreibt, möchte ich gleich ein Bier bestellen, aber es ist noch nicht einmal Mittag.

So um die fünf Jahre jünger als Julia muss ich gewesen sein, als ich an einem Nachmittag beim Spielen gedacht habe, die Welt geht unter. Es war Sommer und es war drückend heiß in der Mansardenwohnung, die Eltern waren ausgegangen. Barbie hatte mit ihrem Freund Schluss gemacht. Sie wollte sich gerade aufs französische Bett legen und ein bisschen weinen, als in der Siedlung eine Art Vakuum entstand. Ich hatte keine Ahnung was passiert war, aber es war eine Spannung in der Luft, die mich fast am Atmen hinderte. Dann wurde die Siedlung von einem starken Vibrieren und Stampfen erschüttert, das sich in einem wiederholten Ohren betäubendem OOOOAAAAA entlud. Das OOOOAAAAA klang wie geschrien von einem verrückt gewordenen, ekstatischen Männerchor. Wie paralysiert habe ich in der von Männern voll besetzten Wohnung meiner Großmutter im Nebenhaus Schutz gesucht. Sie haben mich nicht wahrgenommen, aber sie haben glücklich gewirkt, viel glücklicher als sonst. Es war 1978, es war das Tor von Cordoba und alle Männer der Siedlung waren Könige.

Da war Karl schon in Holland, erzählt er, weil ihm Österreich zu repressiv war. „Deinen Vater hab ich nach meiner Rückkehr damals öfter in der Stadtwerkstatt getroffen, wir wollten ein Portrait über die Trauner Gemeindeärztin Dr. Aue machen. Sie war eine interessante Persönlichkeit. Die streitbarste Feministin von Traun. Doch es blieb beim Plan, sie ist uns weggestorben.“ 

Meine Erinnerung an die komplett lila Ordination, die ich bei meiner Untersuchung zur Einschulung so schick gefunden habe, mischt sich mit dem dynamischen Klang der anfahrenden Straßenbahn am Volksgarten, mit „darf ich den Herrschaften noch etwas bringen“  und mit dem Glück, dass das Hammerweg Projekt verwirklicht wird, bevor die Siedlung stirbt.

Sozial-Landesrat
Josef Ackerl

©2008 Roland Freinschlag